Einführungsveranstaltung
„Die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“: Räume & Akteure der Gewalt
In Teilen Lateinamerikas herrscht ein offensichtliches Dilemma: noch nie war der Nationalstaat so „stark“ – an Gesetzen, internationalen Abkommen, Menschenrechtserklärungen etc. – während zeitgleich die Rechtsstaatlichkeit auf lokaler und regionaler Ebene immer öfter außer Kraft gesetzt wird. Es genügt nicht, eine fortschreitende Militarisierung der inneren Sicherheitspolitik zu kritisieren, die sich als vollkommen ungeeignet erweist, um der Gewalt beizukommen. Denn die Grenzen zwischen staatlichen und privaten Gewaltakteuren zerfließen, ebenso wie jene zwischen legalen und illegalen Kapitalflüssen, Strukturen und Aktivitäten. Vielmehr bedarf es einer kritischen Revision der räumlichen Kategorien, in denen wir politische, ökonomische und soziale Prozesse und ihren Zusammenhang denken – denn wir beobachten eine “Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.”
Die Auftaktveranstaltung des Kongresses „Geographien der Gewalt“ nimmt politische (Staats-)Macht und internationale Ordnungen in den Blick. Wie können diese gedacht werden, welche Realitäten produzieren sie und in welchen sozialen und politischen Räumen finden sie statt? Die Frage nach Akteuren bleibt bei der Analyse von Macht und Herrschaft nicht aus. Wohin müssen wir also schauen, um Gewalt, die immer auch global gelagert ist, besser zu verstehen?

Fotoausstellung. „Warum leben wir im Paradies? Porträt einer Nahua-Gemeinde und ihr Kampf für das Leben.
Die Fotoausstellung dokumentiert das Leben der mexikanischen Gemeinde Santa María de Ostula an der Pazifikküste im Bundesstaat Michoacán. Diese hat sich dem organisierten Verbrechen, Bergbaukonzernen sowie der korrupten politischen Macht entgegen gestellt, um dadurch ihr Territorium, ihre indigene Identität sowie ihre politischen und kulturellen Organisationsformen zu verteidigen. Die Bilder porträtieren ein komplexes und von der Gewalt durchzogenes Mexiko und decken die Jahre 2014-2019 ab.

Panel I
Körper als Territorium des Krieges und des Widerstands
Viele lateinamerikanische Länder sind Regionen par excellencefür eine staatlich garantierte und systematische Straffreiheit in Verbindung mit sexualisierter Gewalt. Aus diesem Zusammenspiel entsteht eine spezielle Art der Kriegsführung und Herrschaft, die sich gegen all jene Körper wendet, die sich nicht einer hegemonialen Vorstellung von Männlichkeit zuordnen lassen. Die Politisierung dieser Körper innerhalb der entfesselten Gewaltspirale dient der Einschüchterung und der Zersetzung gesellschaftlicher Strukturen. Zugleich verweisen feministische Stimmen auf das Widerstandspotential des weiblichen Körpers. Feministischen Kämpfen in Lateinamerika und weltweit gelingt es derweil, die Strukturen patriarchaler Gewalt offenzulegen und zugleich die Rolle ihrer Körper in der Gesellschaft umzudeuten. Diese Form der Wiederaneignung entlarvt sogleich die hegemonial-männliche Perspektive.
Im Zentrum des Panels werden Fragen aufgeworfen, die den Blick auf den Körper als „Territorium des Krieges und des Widerstands“ legen. Dabei geht es einerseits um die Rolle des feminisierten Körpers im Kontext entfesselter Gewalt, die nicht losgelöst von anderen systematischen Gewaltformen analysiert werden kann. Zugleich werden andererseits theoretische und praktische Ansätze feministischen Widerstands diskutiert.

Panel II
Umkämpfte Territorien: Extraktivismus, Enteignung und Widerstand
Der ländliche Raum in Lateinamerika ist Schauplatz einer brutalen Expansion transnationaler Akteure, welche sich ganze Regionen gewaltsam aneignen und imposante Infrastrukturprojekte auch gegen Widerstand realisieren. Von der westeuropäischen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, beobachten wir eine Phase der Expansion des Kapitals und kreativer Zerstörung sozialer Netze, Territorien sowie des menschlichen und nicht-menschlichen Lebens. Diese fortschreitende Expansion verschärft die Dominanz der gewinnbasierenden Arbeit über diejenige Arbeit, die ihren Sinn und Zweck in einem Beitrag für die Gesellschaft verortet. Zwischen „progressiven“ und konservativen Regierungen gibt es diesbezüglich kaum Unterschiede – die Frage, wer die Macht im Staat hat, scheint beinahe unerheblich zu sein.
Ausgehend von dieser Diagnose stellt sich die Frage, welche Rolle der Staat in Lateinamerika hinsichtlich der globalen ökonomischen Dynamik einnimmt, die brutale Auswirkungen auf die Lebensweisen des „ruralen Lateinamerikas“ und dessen politischen Subjekte, Indigene und bäuerliche Bevölkerung haben. Auf welche Formen des Widerstandes und Ansätze einer alternativen Lebensweise berufen sich Gemeinschaften, die von diesen Praktiken direkt betroffen sind und ihr Recht auf politische Selbstbestimmung einfordern? Und ist der Widerstand dazu verdammt, sich stets nur auf lokalen scalesauszudrücken?

Panel III
Urbane Gewalt: Neoliberalismus, Kriminalisierung und Kämpfe um die Stadt
Die rasanten Urbanisierungsprozesse, welche Lateinamerika seit Jahrzehnten durchläuft, können als spezifische Form der Territorialisierung und Verschärfung der widersprüchlichen sozialen und räumlichen Beziehungen des Kapitalismus verstanden werden. Die Städte des globalen Südens sind dabei zugleich Schauplatz, Resultat und untergeordnete Zentren einer gewaltsamen Konzentration von Macht, Menschen, Kapitalen und Funktionen. Gleichzeitigen findet eine Expansion der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse statt, die von jenen urbanen Zentren ausgehen. In den Städten selbst sind Umstrukturierung und ökonomische Aufwertung auf Stadtteilebene, die Prekarisierung der Lebensbedingungen sowie die private und polizeilich durchgesetzte Segregation des urbanen Raums längst alltäglicher Bestandteil des städtischen Lebens. Angesichts dieser Bedrohungen entwickeln Gemeinden und Kollektive im städtischen Raum Formen der Kooperation, Solidarität und politischen Selbstbestimmung, was fraglos zu den vielversprechendsten politischen Neuerungen der Gegenwart gehört.
In dieser Diskussion stehen Konflikte zwischen sozialen Klassen im urbanen Raum im Fokus. Welche Ebenen politischer und ökonomischer Macht sind zentral für die Prozesse in den Städten? Welche Rolle spielen dabei staatliche Institutionen? Und inwiefern vermögen urbane Autonomie-Konzepte, Alternativen auch räumlich zu verwirklichen?

Filmvorführung “No sucumbió la eternidad”, mit engl. Untertitel

Panel IV
Den Schrecken beschreiben: Journalismus in Zeiten des Ausnahmezustands (offenes Gesprächsformat)
Angesichts der Explosion von Gewalt und Straflosigkeit, der rapiden Auflösung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen und der sich hieraus ergebenden Schwierigkeit, die lateinamerikanische Gegenwart mit traditionellen Mitteln der Berichterstattung und Analyse zu fassen, haben sich neue Varianten des narrativen und investigativen Journalismus herausgebildet. Auch Romane, Dramen und Erzählungen widmen sich zunehmend der Gegenwartsproblematik und greifen Themen wie Drogenhandel, Feminizid oder die zentralamerikanische Migration auf. Dem Journalismus kommt dabei die entscheidende Rolle zuteil, die Funktion des gesellschaftlichen Wächters inne zu haben.
In einem offenen Gesprächsformat sollen Grenzen und Möglichkeiten bei der Darstellbarkeit und Vermittlung dieser gewalttätigen Verhältnisse nachgezeichnet werden. Verkommt die Repräsentation der Gewalt zunehmend zu einem verwertbaren Produkt der Kulturindustrie oder vermag sie ihr Potential der Aufklärung und Sensibilisierung vermitteln? Dabei bleibt die Frage nicht aus, wie Autor*innen mit der besonderen Situation ihrer Quellen, Opfer und Täter von Gewaltverbrechen, umgehen können.

Panel V
Forensische Imagination und die Erinnerung an eine schmerzhafte Gegenwart
In den Ländern Lateinamerikas, die im 20. Jahrhundert die Gewalt der Militärdiktaturen erlitten, erfolgte eine kollektive Aufarbeitung des Geschehenen erst Jahrzehnte später. Eine der Besonderheiten der heutigen lateinamerikanischen Szenarien ist es, dass zivilgesellschaftliche Akteure die Gewalt und ihre Konsequenzen (in) der Gegenwart sichtbar und zum Gegenstand der Erinnerung machen. Dabei sind die Auseinandersetzungen um die Erinnerung nicht allein als Kämpfe um die Deutungshoheit der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft zu verstehen, sondern ganz besonders auch als Kämpfe um den Staat und um die Sinnzusammenhänge, die er als hegemoniale Konfiguration der Macht produziert.
Gegenstand dieses Panels ist die Frage, was es bedeutet, an eine traumatisierende Jetztzeit zu erinnern? Wie können archäologische Praktiken der Sichtbarmachung dessen, was die Macht verschwinden lassen will, auf diese Jetztzeit einwirken? Welche Kollektivbilder bezüglich der Gewalt, ihrer Orte und Akteure, produziert der hegemoniale Diskurs, und inwiefern gelingt es durch forensische und erinnerungskulturelle Praktiken und die damit verbundene Vergegenwärtigung der Gegenwart, Gegendiskurse zu entwerfen und gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen?

Workshops – Dialoge zwischen Lateinamerika & Europa
- Geographien der Gewalt: Theoretische Überlegungen und praktische Interventionen
- “Ni una menos”: Feministische Politik und Bewegungen
- Öffentlicher Diskurs und Gegendiskurs: Strategien des (Un-)Sichtbarmachens