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Geographien der Gewalt

Macht und Gegenmacht in Lateinamerika. Kongress in Frankfurt am Main.

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Der Krieg machte mich zur Feministin

Mai 15, 2019 By geogewaltadmin 2 Comments

Von: Marcela Turati | Journalismus, Verschwundene, Mütter

[Der Text erschien in einer gekürzten Version unter dem Titel „Der Mut der Mütter“ am 12. Mai 2019 in der Sonntagsausgabe des Tagesspiegel. ]

Die heutige Gewalt in Mexiko scheint grenzenlos. Vor allem dann, wenn sie sich gegen Frauen richtet. Darin verstecken sich Geographien der Gewalt, die nur schwer zu durchdringen und zu begreifen sind. Die preisgekrönte mexikanische Journalistin Marcela Turati rekapituliert in vier kurzen Kapiteln was es bedeutet, in einem Land voller Toten zu leben. Welche Rolle nehmen Mütter ein, deren Söhne seit Jahren verschwunden sind? Und wie wurde eine Journalistin dadurch zur Feministin?

1.

Der genaue Moment, an dem ich zur Feministin wurde, lässt sich schwer benennen, aber ich weiß, das meine Verwandlung einsetzte, als ich begann, über einen Krieg zu berichten, einen Krieg, der seit über einem Jahrzehnt in meinem Land wütet. Daher möchte ich es wagen, zwei Bezugspunkte dieser Verwandlung zu umreißen: Ciudad Juárez und das Jahr 2010.

Damals war ich Freelancerin, seit zwölf Jahren im Journalismus tätig und hatte mich angeboten, über das zu schreiben, was wir als „Krieg gegen den Narco“ bezeichneten. Ich berichtete aus der Stadt, die bald als das Epizentrum der Gewalt in Mexiko gelten sollte und mit Bagdad um den Titel der tödlichsten Stadt des Planeten konkurrierte. Doch all das war mir zunächst unbekannt. Damals wusste ich nur, dass mir Ciudad Juárez als ein Grenzübergang vertraut war, über den ich bereits berichtet hatte und , nur drei Stunden entfernt von der Stadt lag, in der ich aufgewachsen war.

Es gab in meiner Verwandlung keinen Moment, in dem es mir wie Schuppen von den Augen gefallen wäre. Mein Gedächtnis ist vielmehr ein Kaleidoskop bedeutender Ereignisse. In meiner Erinnerung folge ich den Fußstapfen des Todes durch diese ebene Wüstenstadt mit ihrem ruinierten Zentrum, die sich dank schlechter Stadtplanung zerstreut und bis ins Absurde ausdehnt, in der Maquiladoras, eingezäunte Neubauviertel, Schrottplätze und Brachflächen nebeneinanderliegen, in der Sandstürme Dünen anhäufen, während Bäume und Bürgersteige fehlen, und extreme Temperaturen herrschen.

Schon damals hatte sich Ciudad Juárez in die nationale Fabrik des Todes verwandelt. Die Zeitungen brachten täglich eine Mordstatistik, die als „Exikumeter“ bekannt war und Leichen zählte, als seien sie die Tore eines Fußballspiels.

Ich schrieb Meldungen wie diese:

„Die Gewalt in dieser Stadt hat jede erdenkliche Art ekelhafter Erzählungen hervorgebracht, und sie entsprechen allesamt der Wahrheit. Da wäre die Geschichte des Mannes aus dem Viertel Champotón, der es müde war, jeden Morgen vor seinem Geschäft abgeworfene Tote vorzufinden, und deshalb ein Schild aufstellte: „Müll und Leichen abladen verboten!“ Im November fand sich auf ebendiesem Grundstück die Leiche seiner eigenen Tochter. Der Mann konnte sie nicht mehr sehen, denn er selbst war bereits ermordet worden. Es gibt die Geschichte der Frau aus Valle de Juárez, die einen Hund vorbeilaufen sah, der mit der Schnauze eine Art Ball vor sich hertrieb. Das runde, klebrige, fleischfarbene Wirrwarr stellte sich als der Kopf eines Mannes heraus. Dann gibt es noch die von den Gymnasiasten, die eine Leiche mit Schweinemaske fanden, die am Zaun ihrer Schule hing. Oder die von den Brücken, an denen morgens Männer ohne Köpfe baumelten. Oder die von den Polizisten und Polizistinnen, die flohen, weil sie sich unsicher fühlten. Oder die von dem Mädchen, das  von einem flüchtenden Mann geopfert wurde, der es als Schutzschild gegen Kugeln benutzte.“

Ich begleitete die Bestattungsbeamten der Stadt, die hier „Geier“ genannt werden, oder verbrachte die Nachtschicht mit Polizeireportern, die mir Orte zeigten, an denen sich Massaker zugetragen hatten. Ich interviewte Polizisten, Unternehmer, Priester, Akademiker und Politiker an ihren Arbeitsplätzen, doch nur selten nahmen sie mich dorthin mit, wo tatsächlich etwas passierte.

Es war in den von Tragödien verwüsteten Vierteln, den Gefahrengebieten, wo „sich die Reviere aufgeheizt hatten“, als mir eine Gemeinschaft von Frauen auffiel, die zuerst schienen, als arbeiteten sie allein. Später stellte ich fest, dass sie sich mit anderen organisierten, dass sie Dutzende waren, die an den Fronten unseres heimischen Krieges arbeiteten, ohne sich damit zu brüsten.

Manchmal begleitete ich sie, und niemals konnte ich meinen Blick von ihnen abwenden.

An ihrer Seite traf ich auf die versteckte Welt, die Frauen entfalten, wenn sie sich einem Krieg entgegenstellen müssen: ein weiblicher Kampf gegen den sozialen Notstand. Nie zuvor sah ich mit solch überwältigender Klarheit,  was es bedeutet, Verantwortung zum Schutz des Anderen zu übernehmen, (damals wusste ich noch nicht, dass das Schicksal dieser Frauen auch einmal das meine werden sollte).

Ich entdeckte Frauen, die versuchten, den lähmenden Schrecken aus der Luft zu vertreiben, sei es mit Angeboten wie Reiki oder mit einer der Situation angemessenen Dosis an Blumentherapie. Umherziehende Künstlerinnen malten mit Sprühschablonen Gedichte oder gaben in Parks, wo es „Exekutierte gegeben hatte“ und sich die Anwohner nicht mehr auf die Straßen trauten, Akrobatikklassen und Hip-Hop-Konzerte. Diese Stehgreif-Seelsorgerinnen bildeten in den am schlimmsten betroffenen Vierteln Selbsthilfegruppen, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Die Aktivistinnen kümmerten sich um das Unheil, welches die Gewalt hinterließ, wie die Unterernährung von Kindern. Anwältinnen hörten die Zeugnisse von Opfern und nahmen sich der Verteidigung ihrer Fälle an, auch wenn sie sich dabei mit Polizisten und Militärs anlegten.

Die überwältigende Mehrheit dieser Wohltäterinnen waren Frauen.

2.

Im November 2010 wurde ich zu einer Versammlung in Chihuahua-Stadt eingeladen, auf der sich Opfer dieser im ganzen Land aufkeimenden wahllosen Gewalt trafen. Dort kamen Mütter, Ehefrauen und Schwestern von verschwundenen Personen aus dem ganzen Norden zusammen. Sie hatten ihre eigenen lokalen Suchtrupps gegründet, als ob sie auf diesem Planeten des Schmerzes ganz auf sich selbst gestellt wären.

„Sobald ein geliebter Mensch nicht nach Hause kam, verwandelten sie sich in Nomadinnen. Angetrieben von ihrem Leid reisen sie durch das Land und suchen in Behörden, an den Rändern der Landstraßen, in Krankenhäusern, Gefängnissen, Leichenhallen, Friedhöfen, auf Brachen und in Massengräbern.“

Ich sah, die Frauen sich wie Schulmädchen Notizen machen, wenn sie von Georadargeräten, die menschliche Überreste unter der Erde aufspüren, und von Prozessen zur DNA-Ermittlung hörten oder wenn sie von ihrem Recht, gerichtliche Untersuchungen zu unterstützen, von der Arbeitsweise des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Kontaktdaten der UNO erfuhren.

Eine alte Frau im Publikum stellte eine herzzerreißende Frage: „Wenn sie mir einen Sack voller Knochen übergeben und sagen, es sei mein Sohn, wie kann ich herausfinden, ob er es auch wirklich ist?“ Die Lehrerinnen, die diese Kurse gaben, waren ebenfalls Frauen: die Tochter eines in den sechziger Jahren ermordeten Guerilleros, die forensische Methoden gelernt hatte, eine theologische Anwältin und Gründerin einer Menschenrechtsorganisation, sowie die ehemalige Arbeiterin einer Maquiladora, die sich nach dem Verschwinden ihrer Tochter in eine Detektivmutter verwandelte, bis sie die Überreste ihrer Tochter fand. Sie alle hatten ihr Wissen gesammelt, während sie sich um die dramatischen Fälle verschwundener junger Frauen und Mädchen der vergangenen Jahre in Ciudad Juárez und im gesamten Bundesstaat Chihuahua kümmerten. Die Feminizide hatten gewissermaßen Schule gemacht.

Ich sah wie sie Informationen austauschten und dabei die Mechanismen des Verschwindens von Personen entschlüsselten (zum Beispiel, dass mehrere auf einem Straßenabschnitt oder an gleichen Tagen und Koordinaten verschwanden). Sie setzten sich zusammen und schufen einen Blog, der die Biografien ihrer Vermissten bewahrte. Sie zeichneten ihre Gefühle (zerbrochene Herzen, Stammbäume, leere Häuser mit Sätzen wie „Gott, ich bitte Dich um Stärke und um Hilfe“, „aus Liebe zu meinem Sohn kämpfe ich weiter“, „die Familie ist traurig, aber kampfeslustig gegen das Monster“, „ein unermüdlicher Weg ohne Ziel“). Zum Abschied umarmten sich einige und flüsterten sich unter Tränen den immer gleichen Satz ins Ohr: „Gib nicht auf.“ „Gib nicht auf.“ „Gib nicht auf.“

Ich weinte das erste Mal.

3.

Ein Jahr später, 2011, traf ich diese Mütter, Ehefrauen und Schwestern verschwundener Personen, wie sie an der Seite Javier Sicilias durch das Land zogen. Der Autor Javier Sicilia führte nach der Ermordung seines Sohnes zwei landesweite Opferkarawanen an. Diese Märsche entwickelten sich zu Schaukästen des Schmerzes und des menschlichen Leids, das der „Narcokrieg“ verursachte.

Die Frauen reisten an der Seite des Dichters, aber sie waren nicht die Hauptdarstellerinnen. Sie trugen die Bewegung, wie einst die Frauen der mexikanischen Revolution, die weder berühmt wurden noch in den Geschichtsbüchern auftauchen.

Der Dichter Sicilia kehrte in sein Leben zurück. Aber die Frauen hörten nicht auf, Gerechtigkeit zu fordern. Ich sehe sie weiterhin bei ihren Hungerstreiks vor der Justizbehörde, ich sehe sie in den Karawanen der Mütter von Migranten und Migrantinnen, die seit 11 Jahren entlang der Eisenbahngleise nach ihren verschwundenen Söhnen und Töchtern suchen, ich sehe sie, wie sie Gedenktafeln mit den Namen ihrer verlorenen Lieben anbringen. Ich sehe sie beinahe täglich, wie sie auf Facebook die traurigen Neuigkeiten ihrer Vermissten veröffentlichen.

Das Verschwinden hat solch epidemische Ausmaße angenommen (die letzte offizielle Zahl meldet mehr als 40.000 verschwundene Personen seit 2006), dass die Frauen an jedem 10. Mai, dem Tag an dem wir unseren Muttertag feiern, einen Protestzug nach Mexiko-Stadt organisieren. Sie bitten, verlangen, fordern, dass ihnen jene wiedergegeben werden, die sie an diesem Tag eigentlich feiern sollten.

„Sieh, da sind sie alle! Dort sind die Verrückten, die Trauerweiber, die sich nicht benehmen können. Man sieht sie entlang der Autobahnen marschieren, sieht sie Plätze besetzen und Straßen blockieren. Sobald sie aufwachen, reden sie mit Menschen, die gar nicht da sind. Sie sind es, die nach den heiligen Messen die Gemeinde mit ihren Zeugnissen und ihren Klagen belästigen. Die machen aus reiner Gewohnheit Mahnwachen vor Regierungsgebäuden. Manchmal schmuggeln sie sich in Veranstaltungen mit dem Präsidenten, bitten ihn um Hilfe oder suchen ihn um Beistand an. Wieder andere schaffen es, sich ins Fernsehen zu bringen, um dort die immer gleichen Sätze zu wiederholen. Sie heben sich ab, denn sie wirken uniformiert: eine Bluse, ein Plakat mit dem Foto des Jungen, der jungen Frau, der gleiche Ausdruck ihrer Augen, die gleiche Form ihres Mundes, die gleichen Augenbrauen.“

Ohne es zu merken, wurde ich zu einer Sammlerin feministischer Stimmen. Meine Notizbücher sind wie Spieluhren mit den Stimmen der Frauen gefüllt, die als Opfer unter dem Gewicht der Gewalt leiden, die sich gegen den Staat auflehnen oder die zu Retterinnen in der Not werden. Sie alle sind Hauptdarstellerinnen.

Männer, die sie begleiten, sind selten. In der Regel ziehen die Frauen alleine los.

Wann immer ich einen Ehemann oder einen Sohn dieser Frauen treffe, frage ich sie: Was ist los? Wo sind die Männer?

Ich habe noch keine zufriedenstellenden Erklärungen gehört, nur Ansätze.

Der Ehemann von Frau Julia Alonso – Mutter von Julio, der 2009 mit ein paar Freunden an einem Stausee im Bundesstaat Nuevo León spazieren gehen wollte und verschwand – sagte mir, dass er, während seine Frau sucht, arbeiten ginge, um die Suche zu finanzieren. Die Suche sei teuer und dauere Jahre.

Viele skizzierten ähnliche Erklärungsansätze.

Der nordmexikanische Psychologe Alberto Rodríguez Cervantes, der einige der Männer betreut hatte, die ihre Partnerinnen zu den Workshops für suchende Familienangehörige begleiteten, erzählte mir, dass die Machismo-Kultur den Männern verbiete, Schwäche zu zeigen. Ihnen falle es deutlich schwerer, die Gefühle zu zeigen, die der Verlust eines Sohnes in ihnen auslöst. Es sei ihnen nahezu unmöglich, um Hilfe zu bitten.

Vor ihresgleichen gestehen sie, wie schwer es ist, die Maske der Unerschütterlichkeit aufrecht zu erhalten.

„Einer (von ihnen) erzählte, dass er sich im Bad einschließt, um dort um seinen Sohn zu weinen. Denn die machistische Kultur verlangt, dass er der Starke der Familie ist. Aber sein ganzes Leben fiel in sich zusammen: er verlor seine Arbeit, wurde krank, ist in psychiatrischer Behandlung und nimmt beeindruckende Mengen an Schlaftabletten“, erklärte der Psychologe des Menschenrechtszentrums für Frauen in Chihuahua.

Die Soziologin Martha Sánchez vom Movimiento Migrante Mesoamericano (Bewegung mesoamerikanischer Migrant*innen) sagte mir einmal, die Narcos hätten eine Art Aberglaube gegenüber der Mutterfigur. Deshalb seien es Mütter, die an gefährliche Orte gingen, um nach ihren Kindern zu suchen. Denn die Narcos trauten sich nicht, den Müttern etwas anzutun. Sie ließen sie passieren.

Das hörte ich oft: die Jagd gilt den Männern (9 von 10 Ermordeten oder Verschwundenen sind Männer). Sie wissen, dass sie verschleppt oder hingerichtet werden können. Daher versuchen die Männer, sich unsichtbar zu machen und die Frauen versuchen, an die Öffentlichkeit zu treten.

Der baskische Arzt und Psychologe Carlos Beristáin erklärte mir im Interview, dass im Zuge von gewalttätigen Etappen und Militarisierungsprozessen, wie wir sie in Mexiko erleben, die familiären Rollen in eine Krise geraten, denn die Männer sind stärker von Tod und Rekrutierung bedroht. Deshalb tragen die Frauen das volle Gewicht der Auswirkungen auf das Leben ihrer Familien, das ihrer Gemeinden und das eigene.

Es gibt nicht die eine Antwort. Es könnte eine Mischung aus allen Antworten sein. Es ist auch ein kultureller Zug, unbewusst oder biologisch. Eine Bauchentscheidung.

Vor kurzem sagte eine zentralamerikanische Mutter, die gemeinsam mit dreißig anderen Müttern der Migranten-Karawane nach Mexiko gereist war, um nach ihren Kindern zu suchen, zu einem Fotografen, der sich bemühte, sie zu trösten: „Du wirst nie verstehen, was ich fühle, denn Du wirst niemals eine Mutter sein. Du müsstest jemanden zur Welt bringen, um zu begreifen.“

An den Interviews, die ich geführt habe, fällt mir auf, dass die Sprache dieser Frauen besonders ist.

„Sie sprechen stets von gebrochenen Herzen, von innerer Leere, von einer schmerzenden Seele, von Intuitionen und Eingebungen, von tränengetränkten Wegen, von zertrümmerten Leben, von Mutterliebe, von den Babys, die einmal in ihrer Wiege lagen. Und sie weinen, (…) sie weinen beim kleinsten Anlass.“

Die Männer hingegen erwähnen zwar die Traurigkeit, doch meistens widmen sie sich dem Hergang. Sie berichten von Tatsachen, vom Ort des Geschehens, von den Fakten, die sie erfahren konnten, von Widersprüchen, dem zeitlichen Ablauf. Die Frauen sprechen von Gefühlen, die Männer von Fakten.

4.

Seitdem ich diesem wandernden Krieg folge, aus der Sicht seiner Opfer und seiner Überlebenden von ihm erzähle und von den Möglichkeiten, ihn zu händeln und neues Leben auf verbannter Erde zu sähen, berichte, haben die Dinge, die ich sah, mich in eine Andere verwandelt. Diese Andere versteht sich, neben anderen neuen Identitäten, als Feministin. Nicht weil es meine Absicht wäre, mich mit Männern um Vorherrschaft und mehr Anerkennung zu streiten. Sondern weil ich mit ungekannter Klarheit die Rolle jener Frauen sah, die ausziehen, um sich um andere zu kümmern.

„Das Gewicht der mexikanischen Narco-Gewalt ruht auf den Schultern der Frauen. Sie sind es, die die Leichen ihrer Familienmitglieder abholen, nachdem sie in einer Schießerei ermordet und danach wie Verbrecher zur Schau gestellt werden. Sie sind es, die durchs Land streifen, an Türen klopfen, Plakate aufhängen und Nachforschungen anstellen, um etwas über den Verbleib ihrer verschwundenen Ehemänner, Söhne und Brüder zu erfahren. Sie sind es, die sich organisieren und Druck ausüben, damit Klarheit in die Massaker an ihren Söhnen kommt. Sie sind es, die Haushalte führen müssen, in denen nun die Männer fehlen, deren viele Kinder aber weiter ernährt werden müssen. Sie sind es, die andere Frauen auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit begleiten und die Wunden aller Überlebenden dieses Krieges heilen.

Sie sind die Antigones der Moderne. Sie kämpfen für das Recht ihrer Familie, auch wenn dies bedeutet, dass sie sich mit dem Staat anlegen müssen.“

Plötzlich entdeckte ich in mir eine der ihren.

2006 gründete ich mit anderen Kolleginnen eine Organisation („Periodistas de a Pie“, „Die aufrechten Journalistinnen“), die uns Journalistinnen in der Berichterstattung von Armut schulte. Als aber der mexikanische Krieg begann, und ich mich aufmachte, darüber zu schreiben, „… begann ich über Massaker zu berichten, (…) besuchte Geisterstädte (…) oder soziale Programme für die durch die Gewalt verwaisten Kinder (…). Als sich dreißig Frauen mit den Fotos ihrer Söhne vor mir in eine Schlange reihten, um mir die Geschichten ihrer Söhne zu erzählen, hörte ich auf, von Armut zu berichten…“

Die Gewalt traf uns Journalistinnen unvorbereitet, und sie veränderte mein Leben und meine Pläne.

Auch die Ausrichtung der Organisation nahm eine Wende im Versuch dem Notstand gerecht zu werden.

Wieder einmal sah ich mich von Frauen umgeben, die Doppelschichten arbeiteten: wir mussten unsere eigenen Texte schreiben und gleichzeitig Reporter, die sich in Lebensgefahr befanden, schulen und beraten.

„Die Workshops, die wir organisierten, beschäftigten sich damit, wie wir eine Berichterstattung überleben, wie wir den Drogenhandel erfassen können, wie wir ein überlebendes Kind nach einem Massaker interviewen, wie wir riskante Informationen, die uns in Gefahr bringen könnten, verschlüsseln und wie wir unsere Seelen wieder in Ordnung bringen, damit wir weiterarbeiten konnten, ohne die Lust am Leben zu verlieren.

Ehe wir uns versahen, waren wir eine Notaufnahme. Wir Journalistinnen, die dieses Netz aufgebaut haben, bekamen zu jeder Tages- und Nachtzeit – selbst in der Anspannung kurz vor Redaktionsschluss – Notrufe von Kollegen aus den abgelegensten Gegenden. Verzweifelt baten sie uns um Hilfe, weil sie verfolgt und mit dem Tode bedroht wurden und Schutz suchten. Oder uns erreichen Bitten um psychologische Unterstützung für Reporter, die nach traumatischen Erlebnissen, wie Bränden und Anschlägen auf ihre Redaktion, nicht mehr zur Arbeit erscheinen wollten.“

Von normalen Reporterinnen verwandelten wir uns in Kämpferinnen für Menschenrechte und wurden plötzlich – nicht ohne ironischen Unterton – „Verteidigerinnen“ oder „Aktivistinnen“ gerufen.

Im Jahr 2010 organisierten wir unsere erste Demonstration, mit der wir Gerechtigkeit für ermordete und verschwundene Journalisten forderten. In einer Hand hatten wir Diktiergerät und Notizblock und in der anderen die Fotos der Vermissten.

„Halt mal mein Plakat, während ich dich interviewe.“ „So, jetzt halte ich deins, damit du mich interviewen kannst,“ sagten wir einander. Am Ende fragten wir uns: „Wer unterzeichnet die Freigabe, wenn wir, die schreiben, selbst die Protagonistinnen sind?“

Zu Beginn der Barbarei fassten wir Journalistinnen den Entschluss, unser Netzwerk zum Schutz unserer Kollegen zu nutzen. Angefangen in Ciudad Juárez begannen sehr bald andere Reporterinnen dem Vorbild zu folgen und gründeten ihre eigenen Gruppen. Auch wenn sie in Mexiko vor allem Männer ermorden und verschleppen, konnten wir Frauen nicht einfach weitermachen, als sei nichts geschehen, ohne Zufluchtsorte für alle aufzubauen, ohne Schulungen durchzuführen und Beratungsangebote zu schaffen, ohne Demonstrationen für Gerechtigkeit zu organisieren und durch Kampagnen der Situation der mexikanischen Presse Sichtbarkeit zu verschaffen.

Die Leiterinnen dieser Gruppen sind zwischen 20 und 30 Jahre alt und berichten über Menschenrechte. Sie gehören einer Generation an, die Ekel für die korrupten Verflechtungen von Presse und Macht empfindet und es als ihre Verantwortung betrachtet, sich um das Schicksal anderer zu kümmern und zu verhindern, dass sich Schweigen darüber legt.

Die organisierten Reporter sind anders. Sie reden sehr viel über sich selbst. Sie spielen sich auf. Wir, auf der anderen Seite, investieren unsere Zeit in Versammlungen, Beratungen, stille Gesten, die Suche von sicheren Zufluchtsorten, die Sammlung von Spenden für Familien und die Suche nach Psychologen und Anwälten.

Schließlich schloss sich der Kreis, als Menschenrechtsanwältinnen begannen, uns anzusprechen, damit wir uns zu einem Netzwerk aus Frauen zusammenschlössen, um gemeinsam Rechte zu verteidigen. Das Netzwerk sollte nicht exklusiv aus Feministinnen bestehen, obwohl es in ihnen seinen Anfang gefunden hatte. Es sollte vielmehr dazu dienen, uns gegenseitig Schutz zu bieten. Sie luden uns ein, uns unter Freundinnen an die Hand zu nehmen, um gemeinsam die Wellen zu brechen. Manchmal werden aus Wellen zerstörerische Tsunamis.

Es ist mir nicht leicht gefallen, mich selbst als Feministin zu begreifen. Aber ich weiß, dass ich nicht mehr dieselbe bin. Seitdem ich 2010 das Unbestreitbare gesehen habe, sehe ich mit anderen Augen: die Präsenz selbstloser Wohltäterinnen, die still und subtil, beinahe wie Ameisen unter der Asche, Wiederaufbau leisten.

Im Dezember hörte ich auf, mich zu wehren. Ich wurde Teil dieses Netzwerks von Frauen im ganzen Land, die ihre Fähigkeiten bündeln und ihre Stärken miteinander verflechten, um Leben zu retten (jene, die sich mit Rechtsfragen auskennen, jene Psychologinnen, jene, die wissen wie Morddrohungen zu begegnen ist, und jene, die über die Einrichtung sicherer Zufluchtsorte Bescheid wissen). Im Kreis um einige Grablichter legten wir uns die Arme um unsere Schultern, umwickelten uns mit Garn, sangen und sagten uns auf andere Weise das immer gleiche, murmelnde „Gib nicht auf“.

—————————-

Marcela Turati ist vom 13.-15. Juni 2019 Gast auf dem Frankfurter Kongress „Geographien der Gewalt“, auf dem sie über die Herausforderungen spricht, die ein Journalismus in Zeiten des Krieges erfährt. Der Text erschien ursprünglich in der Zeitschrift Altaïr. 

Übersetzung: Sven Kirschlager

Filed Under: Blog

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Comments

  1. christiane brückner says

    Mai 20, 2019 at 6:56 pm

    Ich möchte einfach Danke sagen für diesen wunderbaren Beitrag, der so unvorstellbar Schreckliches beschreibt und dennoch Stärke in den Vordergrund stellt, so dass ein enormer Respekt, ein Gefühl von Nähe und Ermutigung bei mir bleibt.

    Antworten
  2. Petra Beate says

    Mai 20, 2019 at 7:04 pm

    Gebt nicht auf! Gebt nicht auf! Gebt nicht auf!

    Wir geben nicht auf!

    Wir geben nicht auf!

    Wir geben niemals auf!

    Mit Hochachtung meinen Schwestern

    Petra

    Antworten

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